Finanzmarktbericht – Dezember 2022

Für viele Anleger muss sich 2022 angefühlt haben wie das böse Erwachen aus einem langen und schönen Traum. Krieg, Inflation und Zinsanstieg haben bei Obligationen und Aktien zu Kursverlusten geführt. Die Lichtblicke: Die Inflation geht zurück, Obligationen weisen erstmals seit Jahren wieder einen substanziell positiven Zinscoupon auf, und Aktien lohnen sich weiterhin. Der Chief Investment Officer der LLB-Gruppe, Markus Wiedemann, gibt Auskunft.

Im Gespräch mit Markus Wiedemann, Chief Investment Officer der LLB Gruppe

  • «Wir erwarten für 2023 einen Rückgang der Inflationsraten.»
  • «Der diesjährige Obligationencrash war einer der schwersten der letzten Jahrzehnte.»
  • «Die Schweizerische Nationalbank wird im kommenden Jahr bei den Zinserhöhungen eine Pause einlegen.»

Herr Wiedemann, Anlegerinnen und Anleger haben in diesem Jahr sowohl bei Obligationen als auch bei Aktien herbe Kursverluste erlitten. Was sind die Gründe dafür?

Die Märkte hatten in diesem Jahr viele Krisen und deren Auswirkungen zu verdauen. Für die Kursverluste sind insbesondere der Inflations- und der Zinsschock verantwortlich. Der Inflationsanstieg ist zum einen eine Folge des Krieges in der Ukraine und der anhaltenden Lieferkettenprobleme. Zum anderen hat auch die wirtschaftspolitische Reaktion auf die Pandemie 2020 den Anstieg der Verbraucherpreise begünstigt. Die monetären und finanzpolitischen Unterstützungsmassnahmen waren überdimensioniert. Die Zentralbanken müssen daher mit der Kritik leben, die ökonomischen Folgen der Pandemie falsch eingeschätzt zu haben. Sie hätten die monetären Zügel früher straffen müssen.

Wie hat sich das auf die Obligationen- und Aktienkurse ausgewirkt?

Als Folge der schnellen Leitzinserhöhung sind die Kurse der Obligationen stark gesunken. Darunter haben sowohl Staats- als auch Unternehmensanleihen gelitten. Der diesjährige Obligationencrash war einer der schwersten der letzten Jahrzehnte. Der Zinsanstieg führte zu Bewertungsabschlägen an den Aktienmärkten. Die sich eintrübenden konjunkturellen Aussichten waren ein weiterer Belastungsfaktor. In Phasen steigender und hoher Inflationsraten sind Obligationen- und Aktienkurse in der Regel positiv korreliert, und das hat sich in diesem Jahr negativ auf die Performance aller Strategien ausgewirkt. 

Warum haben inflationsgeschützte Anleihen in diesem Umfeld ebenfalls gelitten? Sie gelten doch als Schutz vor Inflation.

Dabei handelt es sich um einen scheinbaren Widerspruch. Es wird verständlich, wenn man zwischen der Endfälligkeit einer Obligation und ihrer jährlichen Performance unterscheidet. Nehmen wir als Beispiel eine gewöhnliche, nicht inflationsgeschützte 10-jährige Staatsanleihe. Die Rendite dieser Obligation lässt sich theoretisch in die Realrendite und die erwartete durchschnittliche Inflationsrate der nächsten zehn Jahre unterteilen. Wenn die realisierte durchschnittliche Inflationsrate höher ist als die erwartete, läuft der Anleger Gefahr, nach zehn Jahren einen Kaufkraftverlust zu erleiden. Mit einer inflationsgeschützten Anleihe hat der Anleger dieses Risiko nicht, da Couponzahlungen und Nominalwert indexiert sind. Der Inflationsschutz greift. Das schliesst allerdings nicht aus, dass es auch bei inflationsgeschützten Anlagen in einzelnen Jahren zu einer negativen Performance kommen kann. Das ist dann der Fall, wenn die Realrenditen wie in diesem Jahr deutlich steigen und zu Kursverlusten führen. Da die Realrenditen zu Beginn des Jahres tief im negativen Bereich waren, haben wir inflationsgeschützte Anleihen bis Ende Oktober untergewichtet.

Wie erklären Sie sich, dass Gold in diesem Jahr auch kein wirklich guter Inflationsschutz war?

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass dies nicht unüblich ist. Unsere Untersuchungen der Inflationszyklen haben ergeben, dass Gold und Rohstoffe vor allem in der ersten Phase steigender Inflationsraten einen Preisanstieg verzeichnen und dadurch Schutz vor Inflation bieten. Sobald die Notenbanken mit der Straffung der Geldpolitik beginnen und sich das konjunkturelle Umfeld als Folge davon einzutrüben beginnt, kommt es in der Regel zu einer Preiskorrektur. Genau das haben wir bei Industriemetallen und Energie auch in diesem Jahr gesehen, während sich Gold zumindest behaupten konnte.

Wird die Inflation weiter steigen?

Wir sehen tatsächlich seit ein paar Monaten eine Entspannung auf der Angebotsseite. Die Preise für Industriemetalle und Energie liegen derzeit deutlich unter ihren diesjährigen Höchstständen. Auch die Frachtkosten für den Seegütertransport sind wieder spürbar zurückgegangen. Rohstoffmärkte sind hoch spekulativ, und die Preise lassen sich deshalb nicht prognostizieren. Wenn sich die Preise auf dem tieferen Niveau stabilisieren, wird das den Rückgang der Inflationsraten im kommenden Jahr günstig beeinflussen. Wir erwarten deshalb für 2023 einen Rückgang der Inflationsraten. In der Eurozone und in den USA werden diese im Jahresdurchschnitt allerdings über den Zielvorstellungen der Zentralbanken bleiben. In der Schweiz stehen die Chancen gut, dass die Inflationsrate bis Ende 2023 auf rund 2 % zurückgeht.

Werden damit auch die Leitzinsen wieder sinken?

Die Zinserhöhungen dürften im ersten Halbjahr 2023 enden. Für die USA antizipieren die Märkte einen Leitzins von rund 5 % und für die Eurozone von 3 %. Auch die Schweizerische Nationalbank wird im kommenden Jahr bei den Zinserhöhungen eine Pause einlegen. Der Grund dafür ist die sich verschlechternde Konjunkturlage. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die Weltwirtschaft 2023 nur um 2.7 % wachsen. Für rund 40 % der beobachteten Länder erwarten die IWF-Experten, dass die Wirtschaftsleistung im kommenden Jahr in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen schrumpfen wird. Trotz des Konjunkturabschwungs dürften die Notenbanken wegen der erhöhten Inflation kaum Spielraum für Zinssenkungen haben. Das limitiert zwar das Kursgewinnpotenzial an den Obligationenmärkten, allerdings profitiert der Anleger von mittlerweile deutlich positiven Zinscoupons.

Das sind eher bescheidene Aussichten. Lohnt sich ein Aktienkauf noch?

Mit dem Ende des Zinserhöhungszyklus wird der Druck auf die Aktienbewertungen nachlassen. Der Konjunkturabschwung wird sich allerdings negativ auf die Unternehmensgewinne auswirken. Folglich stellt sich die grosse Frage, ob die Analysten inzwischen ihre Gewinnprognosen für 2023 weit genug nach unten korrigiert haben. Die impliziten Risikoprämien an den Aktienmärkten sind 2022 zwar gestiegen, ein Gewinnrückgang bei den Unternehmen dürfte allerdings noch nicht berücksichtigt sein. Das alles spricht im Moment gegen eine Übergewichtung von Aktien. Die Aktienkurse werden sich allerdings erholen, sobald die Märkte das Ende der konjunkturellen Talsohle zu antizipieren beginnen. Das heisst, die Aktienkurse werden zu steigen beginnen, bevor die Rezession endet.

Ein anderer wichtiger Aspekt ist die hohe Verschuldung. Ist diese nicht ein Risiko für die Finanzmärkte?

Die Verschuldung ist derzeit hoch. Auch das ist eine Folge der ultraexpansiven Geldpolitik der vergangenen zehn Jahre. Derzeit beträgt die Verschuldung der Staaten, der Haushalte und der Unternehmen ausserhalb des Finanzsektors sowohl in den entwickelten Volkswirtschaften als auch in China fast 300 % der jährlichen Wirtschaftsleistung.

Was die Staatsverschuldung betrifft, zeichnet sich in den kommenden Jahren keine Entspannung ab. Mit dem Krieg in der Ukraine entfällt in Europa die Friedensdividende. Das bedeutet, die europäischen Staaten müssen mehr in das Militär investieren. Auch die angestrebte Dekarbonisierung der Wirtschaft erfordert hohe Investitionen. Nach Schätzungen der Internationalen Energieagentur (IEA) müssen bis 2030 weltweit fast USD 3'000 Mia. pro Jahr in den Energiesektor investiert werden, wenn die angestrebten Klimaziele erreicht werden sollen. Hier ergeben sich aber auch Chancen. Denn Unternehmen, die nachhaltig agieren oder nachhaltige Güter produzieren, können in diesem Umfeld wachsen und für Anleger interessant werden. 

Was ist ihr Anlagefazit in diesen schwierigen Zeiten?

Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen ist es sinnvoll, einen Teil des Finanzvermögens in festverzinsliche Anlagen und Aktien zu investieren. Da Aktien volatiler sind als festverzinsliche Anlagen, sind allerdings die Risikofähigkeit und die Risikopräferenz des Anlegers unbedingt zu berücksichtigen. Auch ein Anteil Gold kann in diesem Umfeld ein nützlicher Bestandteil eines gemischten Portfolios sein. 

Portrait Markus Wiedemann
Markus Wiedemann, Chief Investment Officer. Liechtensteinische Landesbank AG.